Am 15. März 2011, fast 6 Wochen nach Erscheinen meines Artikels „Die gequälte Seele“ im ZEIT-Magazin kam es zu einem Treffen in Köln: Der Patient, dessen Leidensweg ich geschildert hatte, und seine Frau, der Leiter der psychiatrischen Walter-Picard-Klinik in Riedstadt-Goddelau, auch als Philippshospital bekannt, und ein behandelnder Arzt, weitere Fachleute und ich diskutierten die Folgen der Veröffentlichung. Die Klinik, besonders der im Artikel als Dr. H. benannte Arzt, hatten sich beklagt, mein Bericht sei einseitig und enthalte falsche Tatsachenbehauptungen. Reiner Feldmann und seine Frau fanden das nicht; sie waren aus anderen Motiven angereist; sie hofften in dieser Runde auf völlige Rehabilitation und eine unmissverständliche Entschuldigung der Klinik. Ich selber hoffte im Interesse des ehemaligen Patienten dasselbe, zumindest auf ein Zeichen in dieser Richtung. Ich erklärte mich darüber hinaus gegenüber Arzt und Klinik bereit, Unklarheiten und Unschärfen meines Artikels zu korrigieren und insbesondere Dr. H. von der Verantwortung für die Fehlbehandlung von Reiner Feldmann in der Klinik zu entlasten. In Folge einer Verwechslung wurde er für eine Fehldiagnose verantwortlich gemacht, die tatsächlich aber nicht in seine Zuständigkeit fiel. Das Dilemma der Psychiatrie, verdeutlicht am Beispiel des Patienten Reiner Feldmann, ist mir nach den Auseinandersetzungen um meinen Artikel noch bewusster geworden. Ich fordere, dass die Verantwortlichen in Ärzteschaft und Politik die vor über 30 Jahren begonnene Psychiatriereform endlich weiterführen.

Ich hoffe auf eine öffentliche Auseinandersetzung und wünsche mir, dass mein Artikel, den ich in dieser online-Ausgabe auf den neuesten Stand bringe, dazu beitragen kann.

 

PSYCHIATRIE

Die gequälte Seele

 

Wegen einer Depression suchte Reiner Feldmann Hilfe in einer psychiatrischen Anstalt. Doch dort wurde sein Lebenswille fast gebrochen: Zum Alkoholiker mit Gehirnschwund abgestempelt, geriet er in einer geschlossenen Abteilung für Demenzkranke. Mit bis zu acht harten Psychopharmaka zugleich „behandelt“, fand er nach seiner Entlassung kaum zurück in ein normales Leben.

 

Von Günter Wallraff |

 

Unter den vielen Briefen, die ich erhalte, sind immer wieder Schreiben von Menschen, die mir von ihrer Psychiatrieerfahrung erzählen. Sie berichten davon, dass man sie schlecht  behandelt habe, man sie vernichten wolle, sie an ihrem Leiden zerbrochen seien. Ich fühle mich meist überfordert, wenn ich diese Briefe lese, verweise auf Anwälte, nenne Adressen von Ärzten oder von Patientenorganisationen und hoffe, so ein wenig helfen zu können.

Dann bekam ich einen Brief, in dem es um Goddelau ging. Goddelau, allein der Name zwang meine Gedanken zurück zu einem eigenen Erlebnis, das ich über die Jahre fast verdrängt hatte. Goddelau, das war meine Psychiatrieerfahrung, damals, vor über 40 Jahren.

1967 hatte ich mich im hessischen Riedstadt-Goddelau als vermeintlicher Alkoholiker in die dortige Klinik einweisen lassen und die Zeit in der »Irrenanstalt« zu einer meiner 13 unerwünschten Reportagen verarbeitet.  Der Brief über Goddelau, den ich erhalten hatte, stammte von Reiner Feldmann. Er war, wie er mir schrieb, ausgelaugt an Leib und Seele gewesen und hatte dort Schutz und Hilfe gesucht. Seine Arbeit als Versicherungsangestellter hatte ihn zermürbt, wie viele Beschäftigte, die auf Arbeitsdruck oder drohende Arbeitslosigkeit mit Burn-out-Syndrom und Depression reagieren.

 

Reiner Feldmann begann 1981 bei der Allianz-Versicherung, er war damals 31 Jahre alt und blieb dort sein restliches, fast 30 Jahre währendes Arbeitsleben. Der kräftige, große Mann mit grauweißen Haaren und kurz geschnittenem Bart war aktiver Gewerkschafter. Seine Stimme klingt ruhig und nachdenklich, als er erzählt, wie seine Probleme begannen. »Anfang der neunziger Jahre wurde die Arbeit Schritt für Schritt auf Computer umgestellt«,  sagt er. Parallel dazu seien Sachbearbeitung und Schreibarbeit zusammengelegt worden.  »Durch die Umstellung wurde unsere Arbeit als Sachbearbeiter erheblich ›verdichtet‹ – so nannten sie es, wenn die Arbeit, die früher von zwei Kollegen erledigt worden war, auf  einen übertragen wurde.«

 

2005 macht der Allianz-Konzern viereinhalb Milliarden Euro Jahresgewinn. Die  Konzernführung visiert danach eine weitere Gewinnsteigerung um mindestens 500  Millionen Euro an: Dafür sollen 16 Prozent des Personals eingespart werden. Ältere  Arbeitnehmer, das gehört zu diesem Konzept des Personalabbaus, sollen möglichst in den  Vorruhestand versetzt werden oder über Altersteilzeit früher ausscheiden.  »Ich war am Computer nicht gerade schnell«, sagt Reiner Feldmann. »Früher diktierte  ich, jetzt saß ich mit zwei jungen Frauen im Zimmer, die in der Zeit, in der ich einen Brief  tippte, drei schrieben.« Die Vorgesetzten drängen ihn schließlich in den Vorruhestand.  Er stimmt zu, trotz der erheblichen finanziellen Einbußen, die mit dieser Entscheidung  verbunden sind. Die Altersteilzeit soll für den dann 58-Jährigen im Mai 2008 beginnen,  mit zweieinhalb Jahren voller Arbeit zu geringerem Gehalt. Danach würde er für weitere  zweieinhalb Jahre bei demselben reduzierten Gehalt freigestellt werden und dann die  gekürzte Rente erhalten.

Früher seien die Ruhestandskandidaten in der Versicherung privilegiert behandelt worden,  sagt Reiner Feldmann. »Ich nicht. Im Gegenteil. Ich hatte den Eindruck, als wollte  mein Abteilungsleiter in den zweieinhalb Jahren noch alles aus mir rausholen. Weil die  personelle Situation immer schlechter wurde, musste ich zusätzliche Arbeit übernehmen.«  Schlaflosigkeit und Magenbeschwerden, Schwindel, Übelkeit – unter diesen Symptomen  leidet Feldmann damals. Aber noch hält er durch. Wie dramatisch die Lage auch für andere  Angestellte im Unternehmen ist, zeigt ein internes Rundschreiben seines stellvertretenden  Abteilungsleiters aus dieser Zeit. Von der »großen Verzweiflung der Mitarbeiter« ist  da die Rede und von Versuchen, »Abhilfe zu schaffen« durch die »Einstellung von  Aushilfen sowie die Arbeitszeiterhöhung bei Teilzeitkräften«. Grund für die Maßnahmen:  »Beschwerden von unseren Versicherungsnehmern und den Geschädigten« über die  Abwicklung ihrer Anträge hätten stetig zugenommen.

Arbeitsleid ist das eine. Kommen noch andere Probleme hinzu, mit den Kindern, den  Nachbarn oder in der Ehe, ist die Grenze zum Zusammenbruch schnell überschritten. Bei  Reiner Feldmann ist es das Haus, das er 2007 mit seiner Frau gekauft hat, er fürchtet, sich  damit finanziell übernommen zu haben. Ins Haus hat das Paar auch die Mutter der Ehefrau  aufgenommen, die dement ist und deshalb rund um die Uhr Hilfe und Pflege benötigt.  Reiner Feldmann verstummt angesichts des sich über ihm auftürmenden Berges an  Problemen. Er reagiert mit Depression. Seine Frau macht sich zunehmend Sorgen. Ihr  Mann wird krankgeschrieben, zieht sich zurück, trinkt schon mal zu viel und sorgt sich,  ob er bis zur Frühverrentung durchhält oder ob er vorher entlassen wird und als Hartz-IV-  Empfänger die Familie in den Abgrund reißt Anfang Februar 2008 begibt er sich in die psychiatrische Klinik seiner Heimatregion,  ins Philippshospital in Riedstadt-Goddelau, eine weitläufige Anlage, die mit zahllosen  Gebäuden auf einem Parkgelände liegt. Beim ersten Versuch, dort Hilfe zu  bekommen, macht Reiner Feldmann auf dem Absatz kehrt. »Mir wurde ein Bett in einem  Zimmer zugewiesen, das total zugemüllt war.« Es sei übersät gewesen mit Kleidung,  Zeitschriften, benutzten Taschentüchern und Unterwäsche eines anderen Patienten. »Der  zuständige Arzt zuckte nur die Schultern und meinte, ich solle mich nicht so anstellen.  Wichtig sei doch wohl, dass es keine gewalttätigen Patienten auf der Station gebe. Ich habe  mich dann geweigert zu bleiben. Obwohl es mir wirklich schlecht ging.«

 

Den Impuls, sich lieber doch nicht auf derartige »Hilfe«-Bedingungen einzulassen,  kenne ich gut. Als ich mich 1967 nach Goddelau hatte einweisen lassen, musste ich mich überwinden wie selten zuvor. Ich hatte tatsächlich irre Ängste, im Wahnsinn dieser  Anstalt spurlos zu verschwinden. Die Patienten waren alle zusammen in einer Abteilung  untergebracht, Schizophrene, Alkoholiker, Demente und Epileptiker, obwohl sich die  Erkrankungen stark voneinander unterscheiden. In den Massenschlafsälen wurden  Patienten immer wieder festgeschnallt. Obwohl die Psychiatriereform der siebziger Jahre  immerhin die Massenschlafsäle auflöste und seelisch Kranke tatsächlich zu menschlichen  Individuen erklärte, kann ich gut  erstehen, dass Reiner Feldmann damals einfach umkehrte.

 

Zwei Wochen später, Ende Februar, macht er auf Anraten seines Arztes einen zweiten  Anlauf. Unterstützt von seiner Frau, sucht er die Klinik erneut auf. Diesmal bleibt er.  Der Aufnahmebericht vom 25. Februar 2008 zitiert Feldmanns Frau: Ihr Mann leide an  einer Depression infolge »immenser Arbeitsbelastung«. Auch sehe er Probleme wegen  des gemeinsamen Hauskaufs, die seien allerdings »unberechtigt«; neu und belastend für  ihn sei darüber hinaus, dass das Ehepaar in das neu erworbene Haus gezogen sei, in dem  auch die Schwiegermutter des Hilfesuchenden wohne, die pflegebedürftig sei wegen einer  beginnenden Demenz. Das habe den Alltag für ihren Mann nicht eben leichter gemacht.

Der aufnehmende Arzt, tätig in der Station 9/4, auf der unter anderem depressiv Erkrankte behandelt werden, findet im einstündigen Gespräch mit der Ehefrau und dem Erkrankten das „Anklingen eines Verarmungswahns«. Die Vermutung, ein Patient leide unter einem „Wahn“, wiegt schwer in der Psychiatrie. Die Gefahr besteht nämlich, dass alle Lebensäußerungen des Patienten als Ausgeburten seines Wahns hingestellt werden, die rationalen Gesprächen und psychologischer Hilfe nicht zugänglich sind. Reiner Feldmann hatte tatsächlich Angst, der Hauskauf und seine Frühverrentung werde ihn und seine Frau wirtschaftlich empfindlich belasten. Eine nicht wirklich irrationale Furcht – in Zeiten der Finanzkrise, die damals ihre Schatten voraus warf, schon gar nicht. In der Krankenakte von Reiner Feldmann verfestigt sich stattdessen die bedenkliche Wahn-Zuschreibung. Nicht einmal vom vorsichtigen „Anklingen“ ist künftig mehr die Rede. Am 27.2. heißt es im sogenannten „Verlaufsbericht“: „Leidet unter Verlustängsten sowie Verarmungswahn.“ Am 3.3. notiert die Krankenakte, der Patient zeige „ein schweres depressives Zustandsbild mit ausgeprägtem Verarmungswahn“. Der Entlassungsbericht vom 3.6. 2008 behauptet zusammenfassend: „Herr Feldmann bot ein schweres depressives Krankheitsbild mit ausgeprägtem Verarmungswahn.“ „Wahn“ wird üblicherweise medikamentös bekämpft. Geht es hingegen um ein nachvollziehbares seelisches Problem, um die Angst z.B., man könne durch alle Raster fallen und am Ende in die Altersarmut absinken, sollte das in einfühlsamen Gesprächen ausgelotet und die Angst – soweit wie möglich – gelindert und relativiert werden.

Finden solche ausführlichen therapeutischen Gespräch über die Arbeitsbelastung und das Mobbing – Zustände in seiner Firma, auf die Reiner Feldmann mit einer Depression reagiert hatte hinreichend statt? Reiner Feldmann sagt, nein.  Im Arztbrief,den Notizen der behandelnden Ärzte für die Krankenakte, findet sich kein Hinweis, dass man tiefer in die seelischen Probleme des Patienten eingedrungen sei.

 

Neben dem „Anklingen“ einer Wahnerkrankung vermutet der aufnehmende Arzt noch eine Alkoholkrankheit. Im Aufnahmebogen steht „Alkoholabusus“, also Alkoholmissbrauch. Und: „Krankheitseinsicht besteht für Depression und schädlichen Gebrauch von Alkohol“. Reiner Feldmann hatte allerdings selber ausgeführt, er trinke manchmal täglich einen Liter Wein. Was seine Frau entsetzt, er trinke seit Wochen gar nichts mehr, er sei mitnichten ein Alkoholiker, widerspricht sie. Sie hatte in erster Ehe mit einem Alkoholiker zusammen gelebt, war ehrenamtlich aktiv im „Blauen Kreuz“, einer Suchthilfeorganisation, wusste also einiges über Indizien einer Alkoholkrankheit. Frau Feldmann sagt später, sie habe damals gleich geahnt, ihr Mann werde jetzt „in eine Schublade gesteckt“.

 

Am Aufnahmetag erhielt Reiner Feldmann zur Bekämpfung seiner Depression drei Psychopharmaka: Zyprexa, Quilonum und Trevilor, letzteres hatte er selber schon die Tage vor seinem Schritt in die Klinik eingenommen. Auch Zolpidem, ein Schlafmittel, hatte er seit einiger Zeit genommen. Das Mittel wurde abgesetzt. Was zu Entzugserscheinungen führen kann.

 

Am Abend des Aufnahmetags entwickelte der Patient lt. Krankenakte „Alkoholentzugssyndrome“ und wurde für 6 Tage auf die Suchtstation verlegt. In dieser Zeit erhielt er zusätzlich zu den Antidepressiva noch Tavor und mehrere Entzugs- und Beruhigungsmedikamente (Distraneurin und Atosil). Tavor ist allerdings bei Alkoholismus kontraindiziert, d.h. gesundheitsschädlich. So kritisiert es Prof. Dr. Frank Matakas, Psychiater und langjähriger Klinikleiter in einem Gutachten, das er für mich erarbeitet hat.

 

Reiner Feldmann wehrte sich gegen die Verlegung in die Suchtstation. Er habe sich nie als Alkoholiker gefühlt, auch nie Entzugsymptome erlitten, wenn er keinen Alkohol getrunken habe. »Ich schwitzte und zitterte aufgrund meiner Angst vor Goddelau«, sagt Feldmann, »dies wertete der Arzt als Alkoholentzugserscheinung.« Die Klinik beharrt auf ihrer Sicht, es wäre unverantwortlich gewesen, den Kranken angesichts der gezeigten Entzugserscheinungen nicht entsprechend zu medizieren Die Frage, ob womöglich das Absetzen des Schlafmittels Zolpidem  und die Gabe von Trevilor (Nebenwirkungen u.a. Schwindel, Sehstörung, Nervosität, Zittern, Hitzewallungen, Sedierung/Dämpfung) sowie von Zyprexa (Nebenwirkungen  können sein  Angstgefühle, Zittern, starkes Schwitzen) und Quilonum (Nebenwirkungen u.a. Händezittern, Koordinationsstörungen, Schwindel, Halluzinationen) die festgestellte Symptomatik mit hervorgerufen haben, wird lt. Krankenakte nicht thematisiert.

 

Festzustellen ist allerdings: die Behauptung, Feldmann sei schwerer Alkoholiker, zieht sich – ebenso wie die Behauptung, er leide an „Verarmungswahn“ – fortan durch seine Krankengeschichte in der Klinik. Obwohl er während seines fast dreimonatigen Krankenhausaufenthalts nachweislich keinen Alkohol mehr trinkt, auch auf seinen zahlreichen Ausgängen und Wochenendbesuchen daheim und nach seinem 6-tägigen Aufenthalt auf der Suchtstation nicht ein einziges Mal mehr als vermeintlicher Alkoholiker auffällt, bleibt er es – nach Aktenlage. Der Entlassungsbericht vom 19.5. 2008 an den weiterbehandelnden Hausarzt vermerkt als Diagnose: „Psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol“. Am 3.6. 2008 behauptet ein zweiter, ausführlicherer Entlassungsbericht sogar, bei Feldmann sei eine „chronische Alkoholkrankheit (F10.2)“ diagnostiziert worden. Der so Gebrandmarkte wehrt sich seit seiner Entlassung gegen diese Zuschreibung – mit welchem Erfolg, werde ich im weiteren Verlauf berichten.

 

Erst einmal zurück nach Goddelau, zurück zum 3. März 2008. Nach seiner Rückkehr auf die Demenzstation erhielt Feldmann zusätzlich zu Zyprexa, Quilonum, Trevilor und Tavor noch Ramipril (ein Mittel zur Bluthochdrucksenkung, Nebenwirkungen können sein: Schwindel, Kopfschmerz und Benommenheit; es kann außerdem den Plasmaspiegel von Lithium kritisch steigern), insgesamt also einen Cocktail aus vier Psychopharmaka plus einem Bluthochdruckmittel. Zusätzlich konnten (und wurden) bei Bedarf noch weitere Schmerz- oder Beruhigungsmittel wie Paracetamol,. Riopan, Atosil oder Distraneurin verabreicht.

 

Im Kontrast zur intensiven und extensiven Arzneimittelgabe standen die „Gespräche“. Feldmann selber hielt sie für oberflächlich, meist sei es nur um sein momentanes Befinden gegangen und um die Einnahme der Medikamente. Tatsächlich finden sich in den Krankenakten keine Gesprächsaufzeichnungen, die darauf verweisen, dass die Lebenssituation von Reiner Feldmann ausführlicher beleuchtet oder seine depressive Krise und die möglichen Ursachen intensiver erörtert worden seien. Jedenfalls wird weder von möglichen Blockaden des Patienten, über seine seelischen Probleme zu sprechen noch von eventuellen Fortschritten in der Durchdringung seiner Probleme berichtet. Die behandelnden Ärzte, besonders auf der Station 9/2, verweisen darauf, ihre Aufzeichnungen könnten schon aus Zeitgründen nicht alles wiedergeben, was besprochen worden sei. Man habe jedenfalls, so auch die Bemerkung im Arztbrief, über die Altersteilzeit des Patienten und über seine Sorgen wegen einer möglichen Überschuldung gesprochen.

 

Reiner Feldmann hingegen sagt, er habe sich weder ernst genommen gefühlt noch den Eindruck gehabt, dass die Gespräche mit Ärzten und Pflegepersonal auch nur annähernd die therapeutische Bedeutung gehabt hätten wie die Medikation.

 

Feldmann bleibt nun in der Station 9/2, ohne dass sich sein Zustand nachhaltig bessert. Bereits zuvor war eine Computertomografie des Kopfes in der Radiologie Darmstadt, die mit der Klinik in solchen Fällen kooperiert, veranlaßt worden. Das Institut führt die Untersuchung am 13.März 2008 durch und befundet die Untersuchung noch am gleichen Tag durch einen radiologischen Facharzt. Ergebnis: „keine Atrophie!“Der Befund ist damit in der elektronischen Patientenakte der Radiologie Darmstadt gespeichert und von den Überweisern auf Wunsch per Fax abrufbar. Zusätzlich geht der unterschriebene Befund auf dem Postweg an das Philippshospital und erreicht dort erfahrungsgemäß die Station innerhalb einiger Werktage. Das Schreiben wird von der Klinik allerdings erst am 27. März mit einem Eingangsstempel versehen. Warum so spät, ist ungeklärt. Aber von Bedeutung, denn bis zu diesem Tag nimmt die Klinik die Einschätzung der Darmstädter Radiologen offensichtlich nicht zur Kenntnis. Stattdessen wird Reiner Feldmann, der die Aufnahmen aus Darmstadt mitgebracht hat, mit der klinikinternen Interpretation der Aufnahmen konfrontiert: Sie würden eine „Kleinhirn- und Großhirnatrophie“ zeigen, also einen umfassenden Gehirnschwund. Der Eintrag in die Krankenakte ist vom zuständigen Stationsarzt unterschrieben, der später mitteilt, nicht er selber habe diese Interpretation vorgenommen, sie stamme von einer fachlich versierten Kollegin. Er beruft sich in einem Schreiben gegenüber der Landesärztekammer – da geht es bereits um Regressforderungen von Reiner Feldmann – mit folgenden Worten auf seine Kollegin: „F. stellte eine Atrophie von Kleinhirn und Großhirn fest und bemerkte, dass die Radiologie Darmstadt bisweilen und erstaunlicherweise derartige Befunde als Normalbefunde einordne, was sie selbst aufgrund ihrer klinischen Erfahrung als Fachärztin aber nicht immer teilen könne“ (Schreiben vom 16.12. 2009).

 

Dramatisch ist, dass diese Einschätzung eins der Argumente ist, um Reiner Feldmann von der offenen Depressivenstation des Krankenhauses auf die geschlossene Demenzstation zu verlegen. („Aufgrund der Alkoholanamnese und des klinischen Verlaufs (Entzugssyndrom Orientierungsstörung, Gedächtnisstörung, unsichere Koordination) sowie aber auch konkret aufgrund der Bildgebung im CT informierte ich Herrn Feldmann über unsere Einschätzung einer möglichen Klein- und Großhirnatrophie“, ebd.) Ebenso dramatisch ist, dass das Institut in Darmstadt, wie schon erwähnt, längst zur genau gegenteiligen Interpretation des CT gelangt war. Hirnorganische Veränderungen seien nicht feststellbar, insbesondere: „Keine Hirndruckzeichen. Normal dimensionierte innere und äußere Liquorräume“ – zu deutsch: keine Tumorbildung und keine Hirnschrumpfung.

 

Später teilt mir das Institut mit, selbst wenn ein Gehirn „geschrumpft“ sei, könne daraus überhaupt nicht auf geistige oder gar seelische Zustände des Patienten geschlossen werden. Im Alter sei eine gewisse Hirnschrumpfung normal, überdies sei die Größe des Gehirns ohnehin kein Indiz für Intelligenz oder psychische Gesundheit. CT-Aufnahmen der beauftragten Art seien nur dazu da, um Tumorbildungen auszuschließen, die tatsächlich in bestimmten Fällen „aufs Gemüt drücken“ könnten. Im vorliegenden Fall sei auch das nicht gegeben gewesen.

 

Ganz anders liest das Philippshospital das CT von Reiner Feldmann. Nicht nur notiert der behandelnde Stationsarzt, er habe seinem Patienten mit Verweis auf den angeblichen CT-Befund den „schädlichen Gebrauch von Alkohol und Wirkung auf Organsysteme“ klar gemacht. Frau Feldmann wird einige Tage nach dem CT – da liegt ihr Mann bereits auf der geschlossenen Demenzabteilung – von der dort behandelnden Ärztin eröffnet, ihr Mann sei unheilbar an Alkoholdemenz erkrankt, sie solle am besten zum Amtsgericht Darmstadt gehen und die Betreuung für ihren Mann beantragen. „Es war ein solcher Schlag für mich. Ich war fassungslos, unendliche Trauer kroch in mir hoch“, schreibt Hilde Feldmann später. „Das hieß ja nichts anderes, als dass ich meinen Mann und alles, was diesen Menschen einmal ausgemacht hatte, verloren habe.“ Die Ärztin in der Demenzabteilung beschreibt das Gespräch später auf ihre Weise: Zusätzlich zur psychotischen und depressiven Erkrankung „bestand eine bekannte chronische Alkoholkrankheit (...) Daher kam eine mögliche demenzielle Entwicklung in Frage (...) In einem Familiengespräch habe ich gegenüber der Ehefrau von Herrn Feldmann das aktuelle Krankheitsbild sowie den Verdacht auf die mögliche Entwicklung einer demenziellen Entwicklung geäußert“ (Schreiben vom 18.11.2009).

 

Als ich damals selber in Goddelau war, ist meiner Frau derselbe Vorschlag einer „Entmündigung“ (wie das damals noch hieß) gemacht worden. Und zwar, als ich meinen freiwilligen Aufenthalt in Goddelau beenden wollte. Der Arzt wollte mich dabehalten, ich würde einen suizidalen Eindruck auf ihn machen. Meine Frau holte mich mithilfe eines befreundeten Anwalts heraus. Wie einfach wäre es gewesen, wenn mich meine Angehörigen hätten loswerden wollen. Wie oft kommt das noch heute vor?

 

Bevor Reiner Feldmann in die geschlossene Demenzabteilung verlegt wird und seiner Frau der „Entmündigungs“vorschlag unterbreitet wird, leistet sich der Patient mehrere Regelverletzungen: Er kommt nicht zum vereinbarten Termin von Spaziergängen zurück. Am 15. März kehrt er erst um kurz vor neun Uhr abends zurück, am 19. März erst tief in der Nacht gegen halb eins. Er sagt, dass sei ein Waldspaziergang gewesen, er habe Abstand von der Klinik gebraucht. Aber die Klinik alarmiert verständlicherweise gegen 23 Uhr die

Polizei. Reiner Feldmann sieht irgendwann den Streifenwagen und lässt sich zurückfahren.  Der Krankenbericht notiert, der Patient sei völlig desorientiert gewesen. Reiner Feldmann  ärgert das. »Schließlich«, sagt er, »habe ich, der angeblich Verwirrte, damals die Polizei  problemlos durch das verwinkelte Gelände zu meiner Unterkunft geleitet.« Kein Arzt habe  sich nach seiner Rückkehr um ihn gekümmert, er sei einfach schlafen gegangen. Ganz so einfach wird es nicht gewesen sein, zumindest schreibt die Pflegekraft, die nachts für etwa 30 Patienten zuständig ist, sie habe den Patienten mehrfach auffordern müssen, zu Bett zu gehen. Von weiteren, gar ärztlichen Interventionen ist allerdings nicht die Rede.

 

Die Klinik verlegt Reiner Feldmann in Absprache zwischen Stationsarzt und Bereichsleiter unter Hinweis auf dieses Ereignis und wegen seiner wiederholt „verwirrten“ Zustände mit Zustimmung des Patienten in die geschlossene Demenzabteilung (9/2). Auch hier fehlt in der Krankenakte jedes Nachdenken darüber, ob die Verwirrungszustände mit der Medikamentengabe zu tun habe könnten oder ob die Regelübertretungen mit der Schockdiagnose Gehirnschrumpfung zusammenhängen. Immerhin erhält der Patient seit drei Wochen einen Mix aus vier Psychopharmaka (Zyprexa, Quilonum, Trevilor und Tavor) zusätzlich zwei Bluthochdruckmittel (Raminpril, ab dem 16.3. noch ein weiteres Bluthochdruckmittel, Delix 5 plus (Nebenwirkungen sind Schwindel, Müdigkeit, Schläfrigkeit). Und soll dann noch verdauen, dass er sich, möglicherweise unheilbar, das Gehirn weggesoffen habe.

 

Die Verlegung in die geschlossene Demenzabteilung ist ein zweites Schockerlebnis  für Reiner Feldmann. Er sieht sich umgeben von hilflosen alten Menschen, verwirrt,  desorientiert, stumpf. Der Schock, er habe selber habe eine „alkoholbedingte“ Gehirnschrumpfung und Demenz, ist gewaltig und wirft ihn zu Boden. Er sieht sich für den Rest seines Lebens eingeschlossen in Erinnerungslosigkeit und gedanklicher Leere. Seine Angst wächst noch einmal, überwuchert seinen restlichen Lebenswillen vollständig. Auch wird er gleich nach seiner Einlieferung in diese Abteilung mit einem weiteren Psychopharmakon behandelt, Reminyl. Das Medikament führt häufig zu depressiven Zuständen und Verwirrtheit, eigentlich ist es bei depressiven Patienten kontraindiziert; ebenso übrigens wie Zyprexa, das weitergegeben wird, obwohl es bei dementen Patienten (der er ja angeblich ist) nicht gegeben werden soll. Die Empfehlung, Zyprexa nicht zu geben, gilt auch für Patienten mit starkem Übergewicht; Rainer Feldmann ist das, er hätte das Mittel von Anfang an nicht erhalten dürfen, er muss es aber seit drei Wochen nehmen.

 

Er muss die Mittel nehmen, das gilt wörtlich. Denn mehrfach notiert die Krankenakte, er habe sich gerade auch gegen die Einnahme von Zyprexa gewehrt. Er wird jedes Mal „überzeugt“, das Mittel und sämtliche andere Medikamente doch zu schlucken. Der „Verlaufsbericht“ der Pflegekräfte und die Ärztebriefschreibung notieren seinen Widerstand am 4.3., 7.3., 10.3., 23.3. („AvD überredete ihn zur Einnahme“),  25.3., 26.3., („konnte jedoch auf Nachdruck dazu bewegt werden“), 2.4. („erst nach mehreren Anläufen bereit“), 8.4. („Einnahme überwachen“) und am 17.4. 2008.

 

Feldmann beugt sich, hilflos, bis ins Innerste erschüttert. Seine Frau ist schockiert, kann kaum glauben, was die Ärzte da veranstalten. Sie hat jetzt nicht nur einen wahnhaften, sondern auch einen chronisch alkoholkranken, dementen Mann mit Gehirnschrumpfung!

 

Die Demenz-Station empfindet Reiner Feldmann als persönliches Schreckensgefängnis. An seiner Arbeitsstelle und an privaten Problemen depressiv erkrankt, fühlt er sich jetzt auf einer Art Endstation, ist davon überzeugt, dass sein Leben vorbei ist. »Die Demenzstation«, sagt er, »muss man sich in etwa wie folgt vorstellen: Beim Frühstück werden die meisten Patienten gefüttert, manche sitzen dann stundenlang nur herum. Andere spazieren den ganzen Tag durch die Station. Eine Patientin wollte sich des Öfteren ausziehen. Sie wurde dann vom Personal fixiert. Ein Großteil der Patienten trägt Windeln. An den Zimmertüren befinden sich riesige Ziffern. Viele auf der Station waren einsam, nachts haben sie nach ihren Kindern geschrien.«

 

Reiner Feldmann registriert die Umstände um ihn herum wie in einem Albtraum: Er  gehört hier nicht hin. Er befürchtet aber, dass er hier bleiben muss und nicht wieder  herauskommen wird. Hier liegen die Hoffnungslosen, die Aufgegebenen. Aber er  war doch bis vor Kurzem noch Angestellter eines großen Versicherungskonzerns!  Schadenssachbearbeiter für besonders komplizierte Fälle! Wird man so schnell dement,  unheilbar krank?

Hoffnung, sagt seine Frau, habe ihnen damals nur eine ältere Pflegerin in der Klinik  gegeben. »Sie flüsterte mir zu: Ihr Mann hat bestimmt keine Demenz. Warten Sie ab, das  wird sich herausstellen.« Diese Pflegerin und ein Psychologe seien die Einzigen gewesen,  die versucht hätten, sich in den Patienten hinein zu versetzen und zu verstehen, woran er litt.

 

Schon in der Suchtstation und der Station für depressiv Erkrankte war Reiner Feldmann intensivster medikamentöser Behandlung unterworfen; die setzte sich über die folgenden drei Wochen in der Demenzstation des Hospitals mit über einem Dutzend Tabletten täglich fort.

»Umgehend wurde die medikamentöse Behandlung aufgenommen, ohne mein Einverständnis. An einem dieser Tage weigerte ich mich, meine etwa 15 Tabletten zu nehmen.« Die Krankenakte vermerkt dazu: »Heute Morgen wurde beobachtet, wie er die angeordneten Medikamente ausspuckt und in der Tasche versteckte. Darauf angesprochen, gab Herr F. keine adäquate Antwort.«

 

Was wäre adäquat gewesen? »Ich will mich von euch nicht vergiften lassen?« Die typische  Antwort eines Wahnkranken, paranoid, gänzlich an der Realität vorbei das wäre  womöglich die Reaktion der Ärzte gewesen. Und tatsächlich wurde seiner Weigerung ja auch in keinem Fall entsprochen und die Zufuhr von Medikamenten wegen seiner Klagen eingeschränkt. Ich hatte es damals selber erlebt und im Tagebuch festgehalten: »Ich komme mir vor wie der typische Irre, der sich als einzig Normaler unter lauter Irren fühlt.« Und doch setzt sich irgendwann das Misstrauen fest, vielleicht sei man selber derjenige, der wahnhaft an der Wirklichkeit vorbeilebe.

 

Schließlich misstraut Reiner Feldmann sogar seiner Frau, er befürchtet, sie wolle ihn  womöglich in dieser Station endgültig »abladen«. Ich kenne dieses Gefühl des »induzierten  Irreseins«: Unter dem Einfluss anderer Kranker, vom Pflegepersonal behandelt wie ein  unheilbar Verlorener, zerbröseln die eigenen Kräfte. Reiner Feldmann wirkt zerbrochen,  verzweifelt, ohne Hoffnung.

In welchem Umfang war die Stimmung des Patienten negativ von den starken Psychopharmaka beeinflusst? Schwere bis schwerste Nebenwirkungen sind bei allen Medikamenten bekannt, die ihm verabreicht werden: Tavor, Haldol (bzw. Haloperidol), Quilonum, Zyprexa, Pipamperon, Reminyl. Und in der Demenzstation bekommt er ab dem 2.4. täglich sieben verschiedene Medikamente: Dipiperon, Tavor, Zyprexa, Quilonum, Trevilor, Reminyl, Delix 5 plus. Vom 9.4. bis 12.4. erhält er zwar kein Reminyl mehr, dafür zusätzlich Akineton und Haldol, insgesamt also acht verschiedene Arzneien. Dipiperon wird am 12.4. abgesetzt, die restliche Medikation wird bis zum 5.5. fortgeführt. Wie weit schüttelt ein solcher Mix einen depressiv erkrankten Menschen durch? Wie sehr würden auch Gesunde bei einer solchen toxischen Tortur in die Knie gehen!?

 

Prof. Dr. Frank Matakas, dem ich die von der Klinik schriftlich festgehaltene Medikation vorlege, ist erschrocken. Warum seien dem Patienten gleich drei verschiedene Neuroleptika, („Nervendämpfungsmittel“)  verabreicht worden, fragt er. Schon bei 6 mg Haldol, wie sie Reiner Feldmann zeitweise erhielt, käme es zu Muskelkrämpfen, Starrheit der Muskulatur und dadurch zu Einschränkungen der Beweglichkeit und gleichzeitig zu quälender Bewegungsunruhe. Diese Nebenwirkungen seien für die Patienten extrem unangenehm. Als Fazit seiner Expertise schreibt Prof. Matakas:

 

„Eine ziemlich widersinnige, teilweise in der Kombination den Patienten schädigende Medikation insgesamt. Der Arzt wusste mit dem Patienten nichts anzufangen. Möglicherweise dachte er, jedes dieser Medikamente nimmt ein Symptom weg: also Haldol die Verkennung der Wirklichkeit, Tavor die Angst, Quilonum das Manische, Trevilor das Depressive. Heraus kommt dann ein glücklicher Mensch. Diese Vorstellung von Medikamenten und ihrer Wirkung ähnelt den alten Vorstellungen, dass es einen Liebestrank gibt (s. Tristan und Isolde), dass es das Lebenskraut gibt (Gilgamesch), dass es Zaubertränke gibt (Asterix) usw. Mit Pharmakologie und Psychiatrie hat das kaum etwas zu tun.“

 

Unabhängig vom Nutzwert und den akuten Gefahren einer solchen Medikation gibt es langfristige Folgen: Nach Studien aus den USA und Einschätzungen der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ist die häufig extensive Verschreibung von Antipsychotika eine der Ursachen, warum die Lebenserwartung von psychisch Kranken um 20 bis 25 Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt.

 

Zwei Wochen nach seiner Einlieferung in die geschlossene Demenzstation nimmt das Philippshospital die offizielle Auswertung des CT-Befundes der Radiologie Darmstadt endlich zur Kenntnis. Anders als die Klinikärzte in ihrer Vorabinterpretation

erklärt das Institut, die Computertomografie zeige keinerlei krankhafte Veränderung. Also: keine Demenz, keine Gehirnschrumpfung. In der Krankenakte vermerkt die Ärztin der geschlossenen Demenzstation am 4. April 2008: »keine Hirnatrophie«. Jetzt erst erfolgt lt. demselben Eintrag „eine psychologische Testuntersuchung.“ Nach zwei Wochen in der Demenzabteilung. Ergebnis: „Diese weist auch auf keine Demenz hin.“ Immerhin reagiert die Ärztin jetzt prompt:: »Da es keinen Hinweis auf eine Demenz gibt, wird Reminyl abgesetzt.« Reminyl, das Demenzmedikament, das dem nicht dementen Patienten seit zwei Wochen verabreicht wird.

 

Reiner Feldmann und seine Frau erfahren von der Auswertung des CT, welche die Therapie in der Demenzabteilung des Philippshospitals als Fehlbehandlung einstuft, eher beiläufig. Als sie ihren Mann besucht, wird ihr in einem Gespräch erklärt „die Diagnose Demenz ist ja nun vom Tisch“,und sie sucht nach der Stationsärztin, die aufblickt und meint, es liege ja nun doch keine Gehirnschrumpfung vor, das sei ja schön. Reiner Feldmann selbst wird überhaupt nicht informiert, sondern erfährt die veränderte Einschätzung von seiner Frau. Kein Wort der Entschuldigung hören beide für die Fehleinschätzung und der später daraus resultierenden »Therapie« als dementer Patient. Aber es geht Reiner Feldmann nach der Korrektur der bisherigen, klinikinternen CT-Interpretation allmählich besser. Am 9. 4. 2008 vermerkt die Krankenakte: »Gestern zeigte Herr Feldmann völlig überraschende, neue Verhaltensweisen. Im Tagesraum sitzend machte er Gymnastik mit einem Gummiband, beteiligte sich richtig am Lösen von Kreuzworträtseln, von der Mimik her wirkte er lebendig, an seiner Umgebung interessiert.« (Reiner Feldmann legt Wert darauf, klarzustellen, daß er sich noch nie in seinem Leben mit der Lösung von Kreuzworträtseln abgegeben hat. )

 

Am 10. April reagiert die Klinik. Feldmann wird verlegt und zwar auf die „Südseite“ der Station 9/2. Auch diese Seite wird klinikintern noch als Teil der geschlossenen Station geführt. Aber augenscheinlich ist der Umgang mit den Patienten auf der „Südseite“ der Station ein anderer als auf der bisherigen „Seite“. Das notiert auch die Krankenakte mit dem Eintrag vom 14.4.: „Herr Feldmann ist am Donnerstag letzter Woche (10.4., G.W.) auf die Südseite umgezogen. Der Umzug habe ihm gut getan, er bekomme mehr Anregungen und Anstöße.“ Reiner Feldmann versteht die Verlegung subjektiv als Ende seines Einschlusses in der geschlossenen Demenzabteilung. Die Rücknahme der Fehlinterpretation des CT, die ihn ungemein erleichtert hat, die Verlegung  und nicht zuletzt wohl auch die Streichung von Reminyl bessern seinen Zustand.

 

Damit kehrt er ins Leben, in die Hoffnung zurück. Der Patient erlebt zwar weiterhin tiefe Stimmungsschwankungen, aber er kann jetzt häufiger am Wochenende nach Hause und sieht ganz offensichtlich Licht am Ende des Tunnels. Nach weiteren sechs Wochen wird Feldmann in die Freiheit entlassen.

 

Vier Monate später stellt der ehemalige Patient gegenüber seiner Krankenkasse, dem  Philippshospital und dessen Träger, dem Landeswohlfahrtsverband Hessen, fest, dass er  aufgrund einer falscher Interpretation des CT-Bildes über Wochen mit starken Medikamenten behandelt wurde und in einer geschlossenen Station eingesperrt war. Er fordert Regress für die erlittenen Schädigungen in Höhe von 7500 Euro. Diesen Betrag hatten andere Patienten für ähnliche Fehldiagnosen bereits erstritten. Die Staatsanwaltschaft, an die er sich wendet, lehnt es ab, seine Anzeige wegen Körperverletzung gegen die behandelnden Ärzte zu verfolgen. Sie stellt das Ermittlungsverfahren am 26. Februar 2010 ein und schreibt zur Begründung: »Dass der Antragsteller diese Diagnosen anzweifelt, begründet noch keinen Nachweis eines ärztlichen Fehlverhaltens. Eine Fehldiagnose objektiv nachzuweisen ist jetzt nicht mehr möglich.«

 

Reiner Feldmann legt bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Anfang März  Beschwerde ein. Die wird fünf Wochen später verworfen. Wie genau der unterzeichnende  Oberstaatsanwalt die Krankenakte gelesen hat, erschließt sich aus den Ablehnungsgründen:

Auf der Station 9/4, schreibt der Beamte, »wurde eine Computer-Tomographie mit dem  Ergebnis einer Atrophie durchgeführt«. Die zwar nicht im Philippshospital, sondern in  der Radiologie Darmstadt vorgenommene Untersuchung ergab aber ausdrücklich keine  Gehirnschrumpfung.

 

Reiner Feldmann verzichtete aus Kostengründen auf eine weitere gerichtliche  Auseinandersetzung. Dem von der Staatsanwaltschaft nachträglich erneut  Stigmatisierten bleibt nur noch, den Ende 2009 eingeschlagenen Weg zur Gutachter-  und Schlichtungsstelle bei der Landesärztekammer Hessen weiterzugehen. Die  Landesärztekammer bittet immerhin die Klinik um Stellungnahmen, es gibt Schriftwechsel  und Einwendungen hin und her.

 

Nach einem knappen Dreivierteljahr hat Reiner Feldmann bezüglich der Unterstellung, er sei chronisch alkoholkrank, einen ersten kleinen Erfolg zu verzeichnen. Im Juli 2010 erklärt die ärztliche Direktion des Philippshospitals, nachdem Feldmann ihr mitgeteilt hat, er habe mich über seinen Fall informiert: »Sehr geehrter Herr Feldmann, nach nochmaliger kritischer Durchsicht unserer ärztlichen Unterlagen ist festzustellen, dass sich die zu Beginn Ihres Aufenthalts formulierte Diagnose einer Alkoholabhängigkeit nicht mit letzter Sicherheit aufrechterhalten lässt. Sollte die Nennung dieser vorläufigen Diagnose bei Ihnen zu Irritationen geführt haben, bedauere ich dies.« Eine Entschuldigung würde sicherlich anders aussehen, aber es gehört zur Tragik ärztlichen Handelns, dass jede Entschuldigung eine Regressforderung des Patienten begründen könnte. Vielleicht ist deshalb der mitmenschliche Impuls, sich bei einem Menschen zu entschuldigen, dem man Schaden zugefügt hat, derart gebremst, wie es in diesem Schreiben der Fall zu sein scheint.

 

Die Übernahme von Verantwortung für Fehler jedenfalls sieht anders aus. Falsche Diagnosen mit entsprechend fehlerhaften Behandlungskonsequenzen habe es im Philippshospital nicht  gegeben – das wird zum Mantra der Klinik vor der Gutachter- und Schlichtungsstelle der  Landesärztekammer Hessen. Dort wird bis heute über den Antrag von Reiner Feldmann  gestritten. Die Klinik stellt sich auf den Standpunkt, Reiner Feldmann sei und bleibe  – ganz unabhängig vom Schreiben des Klinikdirektors – dementer Alkoholiker. In der  Stellungnahme des zuständigen Stationsarztes der Abteilung 9/2 gegenüber der Landesärztekammer vom 16.12. 2009 heißt es, Feldmann sei völlig zu Recht in die gerontopsychiatrische Station verlegt worden. Und zwar wegen „Verwirrtheit, fehlender Ansprachefähigkeit etc. (und) wegen akuter Eigengefährdung“. Im übrigen zitiert der Arzt zustimmend den Entlassungsbericht und attestiert Feldmann u.a. eine „chronische Alkoholkrankheit“ (ebd.).

 

Die Gutachter- und Schiedskommission ist bei der Landesärztekammer angesiedelt, der  berufsständischen Vereinigung der Ärzte, also im weiteren Sinne bei einer der beiden  streitenden Parteien, der ärztlichen nämlich. Nicht unbedingt ein Verfahren, das Neutralität  und Objektivität sicherstellt. Deshalb fordern die Patientenverbände seit langem eine unabhängige   Schlichtung, wenn die Folgen ärztlicher Fehler bewertet werden müssen. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener kämpft auch 35 Jahre nach der Psychiatriereform weiter für Menschenwürde in den psychiatrischen Anstalten und für unabhängige Beschwerdestellen. Das ist die zentrale Forderung, um die Struktur der Beschönigung oder gar Vertuschung von Behandlungsfehlern zu durchbrechen.

 

Denn Fehldiagnosen und Behandlungsfehler sind in diesem Zweig der Medizin keine Seltenheit. Es komme je nach Störungsbild immer noch bei über 20 Prozent der Patienten  zu einer Fehldiagnose, schätzt ein Professor für Klinische Psychologie, der namentlich  nicht genannt werden will. Die Einsparungen im Gesundheitswesen ließen allzu oft eine individuelle Behandlung und Diagnose insbesondere in Grenzsituationen nicht mehr zu.

 

Der Spiegel hat in seiner Ausgabe vom 16.5. 2011 enthüllt, dass eine bemerkenswerte Anzahl von leitenden Psychiatern, aber auch Psychologen sich weniger um Verbesserungen dieser Grundprobleme sorgen als um ihr ganz persönliches Wohlergehen. Abgepolstert von gut honorierten Beraterverträgen mit der Arzneimittelindustrie propagieren sie gegenüber Ärzten, Krankenhäusern und der interessierten Öffentlichkeit ständig neue und keineswegs als hilfreich erwiesene Psychopharmaka und helfen, sie in den Markt zu drücken. Und sei es, dass sie dafür ganz neue Krankheitsbilder erfinden müssen. Leider gehört zu diesem Club der kassierenden Koryphäen auch ein Herr Professor für Klinische Psychologie, den ich um eine Stellungnahme zur Lage in der Psychiatrie gebeten hatte und der mir seine harsche und detaillierte Kritik zuerst unter voller Namensnennung dargelegt hatte. Bis er sie dann, als ich sie im hier vorliegenden Zusammenhang veröffentlichen wollte, namentlich nicht mehr vertreten mochte. Als ich schließlich lesen musste, dass der von mir um Rat gebetene Psychiater im Sold von sechs Pharmaunternehmen steht und auch noch das sogenannte „Sissi-Syndrom“ mit erdichtet und propagiert hatte, war mir die Rücknahme seiner Kritik mehr als nachvollziehbar. (s. Spiegel Nr. 20 vom 16.05.2011 und Jörg Blech: „Seelsorger für die Industrie“)

 

Nun gut, auch ohne die Weihe dieses Professors ist nicht nur mir klar: Es liegt vieles im Argen in den psychiatrischen Kliniken Deutschlands. Und in aller erster Linie ist die leichtfertige therapeutische Fixierung auf die Psychopharmaka zu beklagen – bei allen Linderungen, die gezielt und schonend eingesetzte Medikamente bewirken können. Das möchte ich ausdrücklich betonen.

 

Der bedauernswerte Zustand in der psychiatrischen Behandlung ist auch angesichts der zunehmenden Zahl von Zwangseinweisungen in die Psychiatrie ein Problem. Das Justizministerium gibt an, sie seien zwischen 1992 und 2008 von 41.000 auf 144.000 gestiegen, also um über 350 Prozent. Ist unsere Gesellschaft tatsächlich so krank? Oder verbergen sich hinter diesen Zahlen bisweilen auch so fragwürdige Fälle wie der eines Münchner Kunsthändlers, den der ehemalige Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität München  »praktisch ohne Untersuchung« (Süddeutsche Zeitung vom 21. August 2008)  für geisteskrank erklärte. Um sich der drohenden Zwangseinweisung zu entziehen, die von seiner Ehegattin betrieben wurde, floh der Kunsthändler in die Schweiz. Der behandelnde Professor wurde im Februar 2010, nach einem mehr als zehn Jahre währenden Rechtsstreit, vom Oberlandesgericht München zur Zahlung von 15.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt.

 

Abgesehen von derart mutwilligen Fehlurteilen, steht außer Frage: Die psychiatrischen Kliniken müssten personell und finanziell wesentlich besser ausgestattet werden. Denn nur eine intensive Betreuung des Patienten schafft die Basis, um sich in eine seelische Erkrankung hineindenken und sie erfassen zu können. Tatsächlich aber herrschen Personal- und Zeitmangel in den Kliniken. Und wenn das Personal mitunter ausreicht, fehlt es dennoch zu oft an einem respektvollen und hilfreichen Umgang mit den psychisch Kranken. Dazu bräuchte es ständiger Ausbildung und Anleitung und vor allem eine Ende der gedanklichen und therapeutischen Überfixierung auf die Psychopharmaka.

 

In der Historischen Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, des Trägers des  Philippshospitals, ist 2004 ein 500 Seiten starker Sammelband mit dem Titel  Haltestation  Philippshospital  erschienen. Im vorletzten der 38 Beiträge (Psychiatrie aus der Sicht einer  Angehörigen) schreibt die Mutter einer Patientin: »Durch die Gesundheitsreform ist alles  noch schlimmer geworden, es bleibt häufig nur noch das Medikamente-Verabreichen, weil  jedes Wort, jede Gesprächstherapie Geld kostet, das für diese Menschen nicht da ist. Die  Probleme für psychisch Kranke sind nach wie vor groß oder größer geworden.« Leider stimmt das: In einer Zeit, in der das Krankenhaus wie ein beliebiges Industrieunternehmen geführt, die Krankenbehandlung „budgetiert“ und für jede Handreichung und jedes Gespräch Ärzten und Pflegepersonal ein normiertes Zeitkontingent zur Verfügung gestellt wird, kann sich ein Arzt, der z.B. sein „Gesprächsbudget“ – auch so ein Unwort unserer Zeit -  überschreitet, also „zu viel“ Zeit für die individuelle Patientenbetreuung verwendet, sehr schnell eine Rüge einhandeln. Beugt er sich nicht den normierten Vorgaben, bekommt er schließlich Druck, bis hin zur Kündigung.

 

Reiner Feldmann hat trotz dieser Probleme, die wohl in den meisten psychiatrischen Krankenhäusern dieselben sind, den Schritt zurück in ein normales Leben geschafft. Die Klinik sagt: weil wir ihn erfolgreich mediziert haben (Zitat aus einem Schreiben einer behandelnden Ärztin aus der Demenzstation vom 18.11. 2009: „Unter zusätzlicher Haloperidol-Medikation stabilisierte sich nach einigen Wochen der Zustand von Herrn Feldmann zunehmend. (...) Am 20.5. wurde Herr Feldmann in ausreichend stabilem Zustand wieder nach Hause entlassen.“) Reiner Feldmann und seine Frau sagen: trotz der falschen Zuschreibung als Alkoholiker und Dementer mit Gehirnschrumpfung, trotz der daraus erfolgenden Fehlbehandlung und trotz der überbordenden Medikation sei er wieder halbwegs ins Lot gekommen. Allerdings nur vorübergehend.

 

Als Reiner Feldmann aus der Klinik herauskam, kehrte er nicht mehr in seine alte Arbeit  zurück. Er hatte zwar noch eine Zeit lang mit Albträumen zu kämpfen, in denen er besonders die Erlebnisse in der Demenzabteilung noch einmal durchlitt. Aber bald fing er wieder an, unter Menschen zu gehen, er schloss sich einer Bürgerinitiative zur Belebung der Innenstadt seines Heimatortes an und traf sich wieder regelmäßig mit Freunden. Bald jedoch entwickelte er Symptome einer ausgeprägten Manie. Seine Frau beschreibt das so: „Reiner schoss geradezu in eine heftige manische Phase, die über zwei Jahre anhielt. Wir haben die falsche Diagnose Demenz überstanden. Die Euphorie darüber, nicht den Verstand verloren zu haben und die Depression vermeintlich überwunden zu haben, konnten wir nicht bewältigen.“ In dieser manischen Phase spielten sich dramatische Ereignisse ab, schließlich zerbrach die Ehe der Feldmanns. Und dann kam, zwei Jahre später, der Absturz in eine nächste Depression. Aber diesmal hatte Reiner Feldmann mehr Glück. Er und seine Frau fanden – durch meine Vermittlung - eine Klinik, die sich ihm völlig anders widmete, als er es im Philippshospital erlebt hatte. Hilde Feldmann schreibt dazu in einem Offenen Brief an den Klinikdirektor von Goddelau: „Im Vordergrund standen regelmäßige hilfreiche therapeutische Gespräche, eine gute Betreuung und gute Kontakte mit den Ärzten. Auch das äußere Erscheinungsbild der Klinik macht einen sehr guten Eindruck.“

 

Wenn Reiner Feldmann  jetzt um seine Anerkennung als Opfer einer falschen Diagnose und falschen Therapie kämpfen muss, wenn er eine ehrliche Entschuldigung der Klinik fordert, wenn er an die Öffentlichkeit geht und über seinen Fall berichtet, dann schwingt in seinen Aktivitäten viel Wut, viel Verletztheit und viel Kränkung und auch Wut mit. Andere Patienten, denen es ähnlich wie ihm ergangen ist, machen all das mit sich allein aus. Oder scheitern, seinem Fall nicht unähnlich, schon bei dem Versuch, die Staatsanwaltschaft für den Vorwurf von Körperverletzung oder sogar Körperverletzung mit Todesfolge zu interessieren. In Rostock hat das gerade der Vater eines Psychiatrieinsassen erlebt, der sich – wie seine Angehörigen überzeugt sind – wegen Fehlbehandlung und Übermedikation das Leben genommen hat (www.todinrostock.de).

 

Es muss ein anderer Stil her in der Auseinandersetzung mit dem, was heute noch oder wieder zu erheblichen Teilen die Psychiatrie bestimmt: wenn im Übermaß Tabletten verabreicht werden, wenn die Zeit für einfühlende Gespräche und Therapien fehlt, wenn die Behandlungsstruktur in psychiatrischen Kliniken unter dem herrschenden Kostendruck Patienten schädigt und womöglich kränker macht als sie vorher waren, dann ist die Gesellschaft zur Korrektur aufgefordert. Die Psychiatriereform ist nicht zu Ende. Sie braucht einen neuen Anlauf.