29. August 2002

»BILD wird immer wieder rückfällig«

Um Missstände in der Arbeitswelt aufzudecken, schlüpfte Günter Wallraff in verschiedene Rollen und arbeitete als Hilfskraft bei McDonalds, als Leiharbeiter für Thyssen und als Redakteur bei BILD. Am 30. August 2002 liest er im ExHaus (ab 20:00 Uhr), vorab führte unser Mitarbeiter Christian Jöricke ein Gespräch mit dem streitbaren Autoren.

Text: Christian Jöricke Foto: Christian Jöricke

Haben Sie heute schon die BILD-Zeitung gelesen?

Wallraff: Das tue ich mir schon seit langem nicht mehr an. Das ist eine Umweltverschmutzung sondergleichen.

Vor 25 Jahren erschien »Der Aufmacher«, der erste Teil Ihrer BILD-Trilogie. Hat sich seitdem etwas bei BILD geändert?

Wallraff: Der ehemalige BILD-Chefredakteur Bartels sagte einmal: »Es gab eine Zeit vor Wallraff und eine Zeit nach Wallraff.« Ich sei ein heilsamer Schock für sie gewesen. Ich wünschte, es wäre so. Wenn Wahlen anstehen, machen die Propaganda für den jeweils rechten Kandidaten. Oder es werden Links-Politiker angeschossen, um Stimmung zu machen. Das ist ja jetzt wieder voll bestätigt worden.

Auch Menschenrechtsverletzungen gibt es nach wie vor. Vorverurteilungen sind an der Tagesordnung. Ohne die BILD-Zeitung bräuchten wir vielleicht den deutschen Presserat nicht mehr. Die kriegen immer noch die meisten Rügen. Im Streitgespräch mit dem Ex-Chefredakteur Tiedje sagte der salopp: »Das interessierte mich nicht. Die flogen bei mir immer direkt in den Papierkorb.«

Die berufen sich auf ihre Übermacht und meinen, die können sich das erlauben. Das sind Zyniker. Intern verachten die ja die eigenen Leser. Peter Boenisch, der Schlagzeilen wie Schlagstöcke zu handhaben wusste, hat die eigenen Leser in seinen Kreisen »Primitivos« genannt. Das Blatt ist in einigen Dingen vorsichtiger geworden, aber sie werden immer wieder rückfällig.

Hat BILD die Macht, eine Wahl zu entscheiden?

Wallraff: Es wird immer das Beispiel gebracht, dass die Zeitung es nicht geschafft hatte, ihren Kandidaten Strauss an die Macht zu bringen. Aber wahrscheinlich wäre er ohne BILD gar nicht erst angetreten. Das zeigt, dass es doch eine breitere Gegenströmung gab. Aber das sind Beeinflussungen von fünf bis zehn Prozent. Sie haben nicht nur Stimmung gemacht, sie haben Trends eingeleitet und auch verstärkt. Dabei haben sie immer an die niedersten Instinkte appelliert. Jetzt bei der Wahl trägt die Munitionierung von BILD dazu bei, dass Stoiber wohl Kanzler wird. Man sollte nicht vergessen, dass er einst im NS-Jargon von der unzulässigen »Durchrassung« und »Durchmischung« der deutschen Bevölkerung sprach.

Gehen Sie zur Wahl?

Wallraff: Auf jeden Fall. Ich bin ein typischer Wechselwähler, ich wähle immer das kleinere Übel. Ich tue mich aber diesmal schwer, die SPD zu wählen, weil der Kanzler mir zu farblos und zu populistisch ist. Aber bei Stoiber würde ich sagen: »Gute Nacht, Deutschland.« Ich wähle wahrscheinlich diesmal die Grünen. Schon aus nostalgischen Gründen. Aber auch, weil sie immerhin, was Umweltstandards betrifft, einiges erreicht haben. Ich möchte nicht, dass dieses Land, auch gesamteuropäisch gesehen, ins Hinterwäldlerische abrutscht.

In »Ganz unten« schildern Sie Ihre Erfahrungen als verkleideter, türkischer Hilfsarbeiter. Glauben Sie, dass sich an den beschriebenen Arbeitsbedingungen für ausländische Mitbürger viel geändert hat?

Wallraff: Das Buch hat auf jeden Fall bewirkt, dass an den Tatorten einiges verbessert wurde. Bei Thyssen mussten sechs Sicherheitsingenieure eingestellt werden, und es wurden seitdem Staubmasken, Sicherheits- und Schutzhandschuhe ausgeteilt. In Nordrhein-Westfalen wurde ein mobiles Einsatzkommando gegründet, intern die »Ali-Gruppe« genannt, das fortan solchen Konzernen unangemeldet Kontrollbesuche abstattete. Ich habe Tausende Briefe von Menschen bekommen, die aufgrund des Buches ihre Einstellung gegenüber ausländischen Arbeitskollegen und Nachbarn geändert haben, die auf sie zugegangen sind.

Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Kollegen?

Wallraff: Zu einzelnen. Inzwischen sind aber doch einige in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Mein Freundeskreis besteht aber zur Hälfte aus Menschen aus anderen Kulturen. Natürlich heißt das nicht, dass ich alles, was in anderen Kulturen passiert, gutheiße. Diejenigen, die sich hier mit der eigenen Gesellschaft kritisch auseinandersetzen und Missstände reklamieren, sollten sich nicht falsche Zurückhaltung auferlegen, wenn Menschenrechtsverletzungen in anderen Kulturen auftreten. Da wehre ich mich gegen. Ich weiß zu schätzen, was in unserer Demokratie, vor allem auf dem Papier, alles gewährleistet ist. Aber ich habe einen Leitsatz: »Das Recht ist auf Seiten der Opfer.«

Warum ist es in den 90er Jahren so ruhig um Sie geworden?

Wallraff: Ich habe familiäre Probleme gehabt, da war eine Scheidung und einiges, was ich bei meinen Kindern nachholen musste. Es war vor allem auch eine schwere Knochenerkrankung, die bis zu Lähmungen führte. Nach einer gelungenen OP kann ich inzwischen wieder Sport machen.

Sind Projekte in Planung, bei denen Sie wieder inkognito arbeiten?

Wallraff: Ich habe mir eine große Rolle vorgenommen, wenn meine Gesundheit standhält. Das würde dann meine risikoreichste Aktion werden. Ich hoffe, es gelingt.